
Sozialorganisationen reagieren nicht einfach nur auf Not, sondern brauchen eine Vision, die lebt und motiviert.
1. Was ist eine Vision?
Eine Vision ist ein Zukunftsbild, das Begeisterung auslöst.
Was eine Vision nicht ist: Die errechnete Wahrscheinlichkeit für eine mögliche Zukunft. Das mögen manche Zukunftsforscher anders sehen, aber ich möchte hier deutlich dafür plädieren, dass eine Vision etwas sein muss, was uns mit Lust und Motivation in die Zukunft schauen lässt, was in uns Mut und Kreativität weckt, die Welt von morgen aktiv zu gestalten.
Ein solches Zukunftsbild ist der Nordstern, an dem sich alle Mitarbeitenden und alle Aktivitäten einer Organisation ausrichten. Sie ist groß genug, dass sich jede/r darin wiederfinden kann. Gleichzeitig ist sie so groß, dass sie nie vollständig erreicht werden kann und darum immer vor allem eins weckt: Sehnsucht nach einer besseren Welt.
Beispiele:
- Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel: „Unsere Vision ist das selbstverständliche Zusammenleben, das gemeinsame Lernen und Arbeiten aller Menschen in ihrer Verschiedenheit.“
- HILTON Hotels: „To fill the earth with the light an warmth of hospitality.”
- HOCHTIEF: “HOCHTIEF baut die Welt von morgen.”
- Greenpeace: „Greenpeace’s goal is to ensure the ability of Earth to nurture life in all its diversity.“
- Rotes Kreuz Österreich: „Wir, das Rote Kreuz, sind verlässlicher Fürsprecher, erste Anlaufstelle und Wegbegleiter für Pflege- und Betreuungsbedürftige, alte Menschen und sozial Schwache. (…)“
2. Was unterscheidet eine Vision von einer Mission?
Im Gegensatz zur Vision, die beschreibt, wie die Welt aussieht, wenn „alles gut“ ist und Sehnsucht weckt, beschreibt die Mission einer Organisation den Auftrag in der aktuellen Welt und nimmt dabei Bezug auf die Hindernisse und Gegner, die sich der Organisation auf dem Weg zur Vision in den Weg stellen. Sie weckt Motivation, den Kampf gegen diese Hindernisse und Gegner aufzunehmen.
Beispiele:
- Rotes Kreuz Österreich: “Das Leben von Menschen in Not und sozial Schwachen durch die Kraft der Menschlichkeit verbessern.“
- Ärzte ohne Grenzen Deutschland: „Ärzte ohne Grenzen Deutschland trägt dazu bei, medizinische Hilfe für Menschen in Not zu leisten und ihr Leid zu lindern — ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, politischen und religiösen Überzeugungen sowie ihres Geschlechts. Die Hilfe orientiert sich allein an den Bedürfnissen der Notleidenden.“
3. Warum ist ein Zukunftsbild wichtig?
Alice im Wunderland zur Grinsekatze: “Würdest Du mir bitte sagen, welchen Weg ich einschlagen muß?”
“Das hängt in beträchtlichem Maße davon ab, wohin du gehen willst”, antwortete die Katze.
“Oh, das ist mir ziemlich gleichgültig”, sagte Alice.
“Dann ist es auch einerlei, welchen Weg du einschlägst”, meinte die Katze.
Wenn man eine Organisation sein möchte, die mehr tut als Fließbandarbeit und stupides Reagieren und Abarbeiten von Tagesgeschäft ist eine Vision unerlässlich. Sie öffnet den Blick von jeder/m Mitarbeiten auf die Zukunft, auf das, was möglich ist, und motiviert zum eigenständigen, lösungsorientierten und kreativen Handeln.
Eine Vision ermöglicht einer Organisation, eine Richtung einzuschlagen und dies gemeinsam zu tun. Sie ist größer als eine Person, vielleicht sogar als die „heilige“ Gründungsperson bzw. lebt weit über sie hinaus. Und sie ermöglicht allen, Teil einer Bewegung zu werden, Teil von einer größeren Mission zu werden.
Helmut Schmidt wird das Zitat zugeschrieben „Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen!“, und für manch einen ist das V‑Wort immer noch etwas, um das einen großen Bogen gemacht wird. Die Realität in vielen Organisationen heute zeigt jedoch: Wer keine Visionen hat, keine lebendige Sehnsucht-weckende Vorstellung von der Zukunft, sollte keine Führungsverantwortung bekommen – denn wie soll er oder sie Menschen motivieren, führen, und vor allem: wohin?
Die Notwendigkeit einer Vision, eines lebendigen Zukunftsbildes, anerkennt den Menschen als ein kreatives Wesen mit Fantasie und Vorstellungskraft und einem Hunger, dies in seiner/ihrer Arbeit ausleben zu können.
Man könnte sagen, Sozialorganisationen jeglicher Art richten sich nach der gesellschaftlichen Not aus und handeln – reicht das nicht? Aber jedem motivierten Handeln steht die Vorstellung einer besseren/gerechteren/sozialeren/glücklicheren… Gesellschaft. Dieses Bild treibt die Akteure meistens in ihrem Inneren an. Sportvereine wurden nicht nur gegründet, weil man es als ungesund erkannte, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene sich nicht genug bewegten. Sie wurden meistens gegründet, weil eine Person oder eine Gruppe von einer Zukunft träumte, in denen alle Menschen fit und gesund sind und Gemeinschaft vor Ort erleben, ihre Freizeit mit etwas sinnvollem füllen und dass dadurch Krankheiten, Kriminalität, soziale Verwahrlosung, etc. aufhört.
Diese Vision muss aufgespürt werden, denn in diesem Bild einer besseren Gesellschaft liegt so viel Kraft! Die Gründermütter und ‑väter waren meist von etwas angetrieben: „Es muss etwas besseres geben! So kann es nicht weitergehen…“
Fakt ist: fast alle Sozialorganisationen haben eine Vision, sie haben sie nur nicht formuliert!
4. Wie finden Sozialorganisationen ihre Vision?
Fragen Sie fünf Berater/innen und sie werden fünf verschiedene Antworten bekommen. Zukunftsforscher/innen schlagen einen komplexen, langen, teuren Prozess vor, der für die allermeisten Sozialorganisationen nicht nur finanziell utopisch ist, sondern auch mit komplizierten Berechnungen verbunden ist, die zwar Planungssicherheit suggerieren, jedoch anfällig für externe Schocks wie Naturkatastrophen, plötzliche humanitäre Herausforderungen und unvorhersehbare Entwicklungen (Corona-Krise) sind. Gerade die Reaktion auf externe Schocks, größerer oder kleinerer Art, macht aber die Arbeit von vielen NGOs aus.
Ich bin darum davon überzeugt, dass eine Vision nicht etwas ist, was man mit Zahlen berechnen und „festnageln“ kann, sondern etwas Kreatives, Intuitives.
Darum arbeite ich in meinen Workshops mit Methoden, die mit Hilfe von kreativen Fragen und Methoden dieses intuitive Wissen in Worte und Sätze übersetzen, aus denen sich ein gemeinsames Zukunftsbild der Organisation ergibt. Dabei ist jeder Beitrag wichtig – wie bei einem Puzzle, das vollständiger wird, je mehr Puzzleteile auf dem Tisch kommen.
Wichtig dabei ist, dass sich alle Personen (die/der Gründer/in!) sich darauf einlassen, dass die Vision der Organisation nicht „meins“ und auch nicht etwas statisches ist, sondern von vielen Personen der Organisation verantwortet und mit Leben gefüllt werden kann und muss. Das Zukunftsbild kann sogar größer, breiter, weiter als das eigene oder ursprüngliche Zukunftsbild werden – und das ist gut so!
5. Welche Kraft hat eine Vision?
Eine lebendige und gut formulierte Vision entwickelt eine enorme Kraft. Zunächst ist da der Spiegeleffekt, der meistens schon im Workshop eintritt: „Genau das treibt mich an, aber ich konnte es noch nie so gut formulieren. Das bringt es auf den Punkt!“ Die eigene Vision gespiegelt zu bekommen, motiviert von Neuem!
Der zweite Effekt betrifft die Energie, die in der Gruppe entsteht, wenn nach und nach allen klar wird: Wir reden ja eigentlich von der gleichen Sache, nur mit unterschiedlichen Worten. Manchmal können in einem Workshop jahrelange Missverständnisse ausgeräumt werden. Die Kraft der Einheit, gemeinsam eine Vision zu verfolgen, ist enorm.
Dritter Effekt ist die Klarheit, die eintritt, wenn ein Zukunftsbild erarbeitet wurde. Alle wissen, in welche Richtung es geht. Auch hier werden Unklarheiten und Missverständnisse aus dem Weg geräumt.
Ganz selbstverständlich entsteht nach der erfolgreichen Erarbeitung einer Vision die Frage: „Und wie kommen wir da jetzt hin?“ Was uns direkt zur Strategie bringt.
6. Strategie muss auf eine Vision aufbauen!
Ohne Vision fehlt die Basis für eine kräftige Mission, für eine Positionierung, für eine Strategische Planung und Organisation des Tagesgeschäfts. Mit einer kraftvollen Vision steht dem nichts mehr im Wege!